Dienstag, 22. Juli 2008

Die trostlose Kindheit meiner Mutter: Das Kleinkindalter


Das letzte Jahr vor ihrem Tod kamen in meiner Mutter verstärkt die Erinnerungen an ihre Kindheit hoch. Diese Zeit stand ihr plastisch stark vor Augen. Es war all das Unbewältigte was sie quälte. Besonders, daß sie zu Lebzeiten ihrer Eltern es nie gewagt hatte diese zu fragen warum sie sie in der Kindheit so ungerecht und lieblos behandelt hatten, besonders ihre Mutter Gertrud.

Meine Mutter Erika kam in der Ziebigker Schulstraße zur Welt, dem Elternhaus ihrer Mutter Gertrud. Diese mußte – die Zeiten waren so, was Moral und Sitte anlangte – den Maurer Gustav heiraten, da ein Kind unterwegs war, obwohl sie eigentlich sich einen Mann bürgerlichen Standes gewünscht hatte und sie Zeit ihres Lebens ihrer Jugendliebe nachtrauerte, einem Freund aus dem Kaufmannsstande.

Die Zeiten waren allgemein schlecht in Deutschland als die kleine Erika zur Welt kam, aber ein ungewolltes Kind zu sein, dies bedeutete zusätzlich nichts gutes. Ihre Mutter hatte gerade als Erika zur Welt kam etliche Jahre eine Cousine vom Babyalter bis zum Schulkind aufgezogen, die Tochter ihrer Schwester, welche als Alleinerziehende in einer Fabrik arbeitete. Dieses fremde Kind war ihr zeitlebens ans Herz gewachsen weil sie tagtäglich mit ihm zusammen war. Anders dann bei Erika, ihrem eigenen Kind, dieses wollte sie merkwürdigerweise nicht selber betreuen, sondern Erika wurde ab dem Alter von 2 ½ Jahren in eine Tagesstätte abgeschoben und ihre Mutter ging in eine Fabrik arbeiten. Nun wäre es ja nicht weiter schlimm gewesen wenn Erika in einen normalen Kindergarten gekommen wäre, so einen der nur ein paar Häuser weiter in der Straße existierte, der einen sehr guten Ruf hatte, wo die Kinder spielen durften, wo es einen Garten gab, wo sie sich an der frischen Luft aufhalten konnten. Nein, ausgerechnet viel weiter weg von zuhause wurde die Tagesstätte für Erika ausgewählt, in die sie bis zum Alter von 6 Jahren jeden Tag gebracht wurde – die Kinderaufbewahrung der Anhaltischen Diakonissenanstalt. Diese Kinderaufbewahrung war eigentlich nur für Kinder gedacht, deren Mütter mal kurze Zeit sich nicht um ihr Kind kümmern konnten, wegen einem Arztbesuch etwa oder der Zeit einer Entbindung im Krankenhaus oder ähnlichem, für Langzeitaufenthalte war diese Einrichtung einfach nicht gedacht. In all den Jahren war es nur meine Mutter Erika und ein Junge die mehrere Jahre dort jeden Tag von früh um 6 Uhr bis abends 18 Uhr ausharren mußten. Das einzig positive an dieser Kinderaufbewahrung war, daß sie absolut kostenlos war, ansonsten war diese Kindheit dort täglich 12 Stunden lang zubringen zu müssen für ein kleines Kind schlimmer als jeder Gefängnisaufenthalt in der damaligen Zeit. Bei Wind und Wetter brachte ihr Vater die kleine Erika auf einem Fahrrad, wo sie auf der kalten Mittelstange sitzen mußte, zu dieser Kinderaufbewahranstalt zu zwei strengen und lieblosen Diakonissen die all die Kinder beaufsichtigten die dort abgegeben wurden. Der Raum in dem die Kinder sich aufhielten enthielt außer Tischen und Stühlen nichts, kein einziges Spielzeug, weder Puppen noch Bauklötzer, noch irgend etwas kindgerechtes. Essen bekam Erika von zuhause nicht mit, dies wurde von der Diakonissenanstalt gestellt. Doch wie sah dieses „Essen“ aus? Da in den 20er Jahren Deutschland in einer Wirtschaftskrise war und weite Teile der Bevölkerung nur schwer über die Runden kamen, hatte natürlich auch die Kirche nichts zu verschenken. Für eben diese Kinderaufbewahranstalt hatten all die Jahre als meine Mutter dort zubringen mußte amerikanische Quäker (eine Religionsgemeinschaft) die Patenschaft, was das Essen anbelangte, übernommen. Es gab all die Jahre tagtäglich nur Haferflockensuppe, nichts anderes! Für Kinder die nur mal ein paar Tage dort untergebracht waren, war dies akzeptabel weil ja Haferflocken eigentlich eine gesunde Nahrung sind, aber wer nun Jahr für Jahr jeden Tag nur Haferflocken vorgesetzt bekommt, der muß eine gesunde Abneigung gegen diese einseitige Kost entwickeln und es muß zwangsläufig zu Vitaminmangelerscheinungen kommen, wie dies der Schularzt bei meiner Mutter bei der Einschulungsuntersuchung konstatierte. All diese Kleinkindjahre kam Erika in der Woche über nie an die frische Luft, nur am Sonntag wo sie zuhause war, kam sie mal raus. Spaziergänge mit den Kindern gab es nicht, stattdessen stundenlanges „artigsein“, stundenlanges Sitzen auf dem Stuhl ohne zu sprechen, stundenlanges beten und singen „frommer“ Lieder und stundenlanges Sitzen vor dem nicht abgegessenen Teller mit der Haferflockensuppe, die schon Brechreiz auslöste wenn sie auf den Tisch kam. Aber die kaltherzigen Diakonissen kannten kein Erbarmen, sie verlangten, daß abgegessen wurde, auf Biegen und Brechen und auch wenn Erbrochenes schon auf dem Teller gelandet war – es war der Kleinkindhorror pur. Nun gab es in dieser Anstalt auch feste Regeln für das Austretengehen, wer da nicht „konnte“ hatte Pech gehabt, Austreten wenn man mußte, gab es nicht, dies duldeten die strengen Diakonissen nicht. So passierte es meiner Mutter regelmäßig, daß sie in die Hosen machen mußte, weil sie auf Befehl eben nicht austreten konnte. Abends als sie vom Vater abgeholt wurde waren oft die Hosen nass oder gar voll. Zuhause angekommen hatte ihre Mutter nichts weiter zu tun als dem armen Kind die Hosen auszuziehen und ihr erbarmungslos den Hintern zu versohlen. Ihr Vater, eigentlich ein kinderlieber Mann mit einem guten Herzen, konnte sich zuhause bei diesen rüden Erziehungsmethoden nicht durchsetzen. Dies war auch dem Zeitgeist geschuldet, Erziehung kleiner Kinder war damals Domäne der Frauen, Väter mischten sich da selten ein, erst wenn die Kinder größer waren.

Ja und dann war da noch der Sonntag, ein Tag wo endlich ein Kleinkind wie Erika von der Mutter betreut werden hätte können, doch auch da wurde sie weggegeben in die Obhut der halbwüchsigen Cousine, für die die Betreuung eines kleinen Kindes nur eine Last bedeutete, die lieber mit Gleichaltrigen rumstromern wollte, der aber dieses kleine Kind nun wie ein Klotz am Bein hing. Pfiffig wie diese Cousine war, nahm sie die kleine Erika mit zum Spielen und in Absprache mit ihrer Freundin ließen sie das Kind einfach stehen, rannten weg und ließen Erika allein. Die suchte nun ihre große Cousine, weil ihr das eingebleut worden war, und irrte dadurch nicht selten manchen Sonntag in fremder Umgebung herum und suchte Schutz bei Frauen die sie dann nach ausfragen wo sie wohnen würde oft nachhause brachten. Resultat: Wieder gab es unbarmherzig Schläge, weil ihre Mutter der Cousine glaubte und nicht ihrem eigenen Kind. Die Cousine log das Blaue vom Himmel, daß die kleine Erika einfach mal wieder abgehauen wäre und sie sie nicht mehr eingeholt hätten. Unlogisch hoch drei, da die Cousine und ihre Freundin mehr als doppelt so alt war wie Erika und sehr sportlich war, Erika dagegen war durch die Mangelernährung sehr schwächlich und sie hätten selbstverständlich das Kind schnell einholen können, aber die ungerechte Mutter interessierte diese Logik nicht und nicht ein einziges Mal glaubte sie ihrem eigenen Kind was es erzählte, sondern immer nur der großen Cousine.

Erikas Vater Gustav, der selber eine schwere Kindheit gehabt hatte, schlug Erika nie, er war im Grunde ein sehr guter Mensch, aber eben willensschwach sich in Fragen der Kindererziehung gegen seine Frau durchzusetzen. Freitag war Geldtag, da kaufte er Erika immer eine Tafel Vollmilchschokolade, mit der „Muhtschekuh“ drauf. Glücklich hielt Erika diese in Händen als es am Abend von der Kinderaufbewahrung nach Hause ging, an den wilden Wiesen vorbei die damals noch zwischen Diakonissenanstalt und der Schulstraße in Ziebigk standen und die zur Blütezeit von tausenden roten Mohnblüten übersäht waren, die meine Mutter mit großer Freude pflückte. Zu Hause angekommen, bekam sie die Schokolade von der Mutter abgenommen, ein Kind „solle nicht verwöhnt werden“. An all dies konnte sich meine Mutter nach den vielen Lebensjahren genauestens erinnern als wenn es gestern gewesen wäre und all diese Kleinkinderinnerungen verließen sie als schwere Bürde ihr ganzes Leben lang nicht, sowohl die wenigen positiven Ereignisse nicht wie auch die vielen negativen nicht, wie die Zeiten der zeitweiligen Blindheit durch Scharlach oder die anderen schlimmen Krankheiten, wie einem Eiterabszeß am Hals, wo sie tagelang hohes Fieber gehabt hatte und starke Schmerzen, wo der Abszeß dann glücklicherweise nach außen durchbrach und sie dadurch am Leben blieb und wo die Eltern sträflicherweise keinen Arzt konsultiert hatten, obwohl es für einen Chirurgen ein leichtes gewesen wäre mit einem simplen Schnitt den Abszeß zu öffnen.

Erikas Kleinkindjahre gingen zu Ende mit der Geburt ihrer zweiten Schwester, eine weitere Schwester sollte etliche Jahre später noch nachfolgen. Ihre Mutter ging zur Entbindung dieser Schwester ins Krankenhaus nach Wolfen, da ihr Ehemann zu dieser Zeit in der Farbenfabrik Wolfen arbeitete, in der „Giftbude“ wie er noch später immer zu sagen pflegte. Vater Gustav hatte sich für diese Zeit Urlaub genommen und versorgte zuhause die kleine Erika, die endlich mal nicht in diese furchtbare Kinderaufbewahrung gehen mußte. Diese wenigen Tage sind ihr in glücklicher Erinnerung geblieben, weil sich ihr Vater wirklich liebevoll um seine Tochter kümmern konnte, ohne seine Frau im Hause. Erikas Mutter war gut im Schneidern, schneiderte auch für sich und andere die schönsten Kleider, nur ihre Tochter Erika mußte herum laufen wie ein Bettlerkind um 1850, mit lieblos zusammen geflickten Sachen, ohne richtige Schuhe, nur mit selbst zusammen geschusterten Stoffschuhen. All dies tat ihrem Vater schon lange leid und er faßte sich ein Herz und ging in der Zeit wo seine Frau im Krankenhaus weilte mit Erika in die Stadt in ein Bekleidungsgeschäft und ließ sich da von einer Verkäuferin beraten. Erika wurde von Kopf bis Fuß zum ersten Mal in ihrem Leben komplett schön eingekleidet: hübsche Lackschuhe, feine Kniestrümpfe, ein Kleidchen, ein wunderbares Mäntelchen und als Krönung ein Hütchen in der Mode der Zeit. Nur wenige Tage dauerte diese Freude an. Als Erikas Mutter vom Krankenhaus nachhause kam mit dem zweiten Kind im Kinderwagen, da bekam sie einen regelrechten Wutanfall als sie Erika in diesen hübschen Sachen sah. Noch jahrelang machte sie ihrem Mann Vorwürfe, daß er ein Verschwender gewesen wäre indem er Erika diese Sachen gekauft hätte. In ihrem Zorn griff sie einen Tag nach ihrer Ankunft zuhause zu einer Schere und zerschnitt all die wunderhübschen Kleidungsstücke und warf sie samt den neuen Lackschuhchen in den Müll!

Die zwei Fotos sind die einzigen mir bekannten Aufnahmen von meiner Mutter im Kleinkindalter. Obiges Foto zeigt meine Großeltern und meine Mutter, das untere Foto zeigt meine Mutter in ihrem „Sonntagsstaat“. Eine traurige Kindheit, fürwahr!



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