Mittwoch, 23. Juli 2008

Die trostlose Kindheit meiner Mutter: Die Schulzeit


Die heutige Geschichtsauffassung tendiert dazu im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus die Weimarer Zeit zu idealisieren. Daß aber die Masse der Bevölkerung gerade in den sogenannten goldenen 20igern ein elendes Leben hatte und nur eine kleine Oberschicht von Kriegsgewinnlern und alter Oberschicht, wie Gutsherren und Fabrikanten, ein Leben in Saus und Braus führte, dies wird heutzutage gern ignoriert und man verweist auf die wenigen durch die Sozialdemokratie eingeführten Verbesserungen im Sozialwesen, unterschlägt aber meistens den reaktionären Charakter eben dieser „Demokraten“ deren obrigkeitliche Vertreter wie eben ein SPD-Polizeichef von Berlin namens Noske auf Berliner Arbeiter schiessen ließ. Es war also durchaus legitim und keineswegs ein Irrtum wenn die damalige KPD die Machthaber der Weimarer Republik als Sozialfaschisten bezeichnete.

Meine Mutter Erika wurde in Dessau-Törten eingeschult, da ihr Vater in mühsamer Eigenleistung ein Haus auf dem Sandberg gebaut hatte, dies nach Feierabend, nach einem anstrengenden Arbeitstag, so ziemlich auf sich allein gelassen, denn Hilfe fand er keine in der Verwandtschaft. In die Schule ging meine Mutter sehr gern, es gab dort im Gegensatz zu der grauenvollen Kinderaufbewahrung bei den Diakonissen zwar strenge aber verständnisvolle Lehrer die die Kinder förderten, was bei den Diakonissen all die Jahre nicht der Fall gewesen war. Bald zählte sie zu den besten Schülern der Klasse. Dies zahlte sich aus, wie sie mir erzählte. Eine Schulfreundin von ihr - die war nicht die hellste - hatte aber eine Mutter die sie verwöhnte und jeden Tag bekam dieses Mädchen wunderbare Pausenbrote mit dicker Butter und herrlichem Schinken oder anderen schönen Sachen darauf mit in die Schule, im Gegensatz zu Erika, die überhaupt kein Pausenbrot mitbekam. Erika machte für dieses Mädchen regelmäßig die Schularbeiten und half ihr auch sonst in schulischen Dingen, dafür bekam sie immer eines dieser köstlichen Pausenbrote ab.

Am Elternhaus meiner Mutter war ein großer Garten, nicht wie jetzt parkähnlich angelegt, sondern von Anfang bis Ende Beet an Beet, Obstbaum an Obstbaum und an die 100 Sträucher mit Beeren. Dies bedeutete schwere Arbeit für Erikas Vater, der den Garten bewirtschaftete, aber auch die kleine Erika mußte ab dem 6. Lebensjahr dort tüchtig mithelfen, wie mit einer schwer gehenden Pumpe jeden Tag das Bassin mit Wasser für das abendliche Gießen vollpumpen, Unkraut jäten und vieles andere mehr. Besonders ekelte sie sich als es hieß, sie müsse von den Kohlköpfen die Raupen des Kohlweißlings ablesen, die damals eine wahre Plage in deutschen Gärten waren. Diese mußte Erika in einen Eimer mit Wasser werfen und sie wurden dann zu hunderten den Hühnern zum Fraß vorgeworfen. Rücksicht auf Ekelgefühle eines kleinen Kindes wurde zuhause nicht genommen, jedenfalls nicht bei der Erstgeborenen Erika.

Eine Begebenheit blieb meiner Mutter fest im Gedächtnis haften, als sie im Alter von 6 Jahren von ihrer Mutter zu einer Frau Lüdicke mitgenommen wurde, die einen mehrere zehntausend Quadratmeter großen Garten besaß. In diesen riesigen Garten wurde Erika von ihrer Mutter und dieser Frau Lüdicke geführt. In einer entlegenen Ecke standen hunderte verwilderte Johannisbeersträucher. Da sollte Erika mutterseelenallein Beeren pflücken. Ein großer Spankorb sollte dann mit 10 Pfennigen entlohnt werden. Als Erikas Mutter und diese Frau Lüdicke gegangen waren, pflückte Erika Beeren und bekam dort große Angst nicht mehr aus diesem großen Garten heraus zu finden. Einzige Orientierung war ein großer Turm im Garten der in der Nähe des Eingangs stand. Mutter lief nach kurzer Zeit in panischer Angst mit dem erst halbvollen Korb durch diesen Garten, in purer Verzweiflung nie mehr dort heraus zu kommen. Daß schon 6jährige Kinder in der Weimarer Zeit von ihren Eltern regelrecht an derartige Arbeitgeber vermietet wurden, dies kam zwar bei weitem nicht so oft vor, aber es gab dies eben doch. Besonders Kinder, die ein, zwei Jahre älter waren als damals Erika, die mußten oft schwerste Arbeit leisten.

Da nun Erika sich mit Händen und Füßen wehrte weiterhin diesen gruseligen Garten der Frau Lüdicke zu betreten um dort mutterseelenallein Beeren zu pflücken, ihre Mutter aber der Meinung war, daß ein Kind zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müsse – eine Meinung übrigens die sie merkwürdiger Weise bei ihren später geborenen anderen Kindern dann nicht mehr hatte, denn diese mußten als Kinder nicht arbeiten gehen – blieb dann Erika nichts anderes über als mit etlichen anderen Törtener Kindern auf dem Gut des Gutsbesitzers in Priorau, Schierau, Möst - Dörfern in der Nähe von Törten - zu arbeiten. Jeden Tag stand um die Mittagszeit vor der Törtener Schule ein großer von Pferden gezogener Leiterwagen des Gutes und alle Kinder die wollten oder die von zuhause aus gezwungen wurden, die stiegen dort ein. Entweder ging es gleich auf die Felder des großen Gutes, um dort Unkraut zu jäten, Rüben zu verziehen, Garben zu stellen oder Kartoffeln zu langen, oder man fuhr bis zum Hauptsitz nach Priorau wo die Kinder dann für allerlei Arbeiten in Stall und Tenne eingeteilt wurden. Als Stundenlohn gab es 10 Pfennige. Ob nun in glühender Hitze im Sommer auf dem Feld, oder bei Regennässe in der Herbstkälte, die Kinder wurden angetrieben für einen Hungerlohn, den sie auch noch zuhause bei ihren Eltern abgeben mußten. Bei der Feldarbeit wurden Brigaden gebildet und die Kinder angestachelt schneller als die gegnerische Brigade zu sein. Wer faul war oder zurück blieb, der bekam oft eins mit den Peitschen übergezogen, die die erwachsenen Aufseher und Antreiber im Gürtel hatten. Aber auch bei diesen Aufsehern gab es solche und solche, wie meine Mutter erzählte. Ein Mann war z.B. ein sehr verständnisvoller Mensch der die Kinder fair behandelte, aber eine Frau Hetzer z.B. war geradezu wegen ihres Schandmaules und ihres häufigen Gebrauchs der Peitsche mehr als gefürchtet. Was nun allerdings positiv für die dort schwer arbeitenden Kinder war, dies war, daß es Mittagessen gab (Für meine Mutter ein Segen, denn zuhause wurde zu Mittag nicht gekocht). Es wurde eine Suppe gereicht und bei großer Hitze gab es einen großen Kübel mit Essigwasser um die ausgetrockneten Kehlen der Kinder zu befeuchten. Zwei, drei mal sahen die dort schuftenden Kinder, wie auch meine Mutter, die Tochter des Gutsherren auf ihrem weißen Reitpferd vorbeitraben, die Kinder natürlich keines Blickes würdigend. Zu dem Geburtstag dieses asozialen, schmarotzenden Fräuleins bekam jedes Feldarbeitskind eine Schokolade geschenkt. Im Nachhinein betrachtet ändern all diese elenden Brosamen von den Tischen der Reichen natürlich nichts an der Verurteilung dieser schäbigen Ausbeutung. Gerade der Gegensatz dieser so ausgebeuteten Kinder, die mehr oder weniger von ihren Eltern zu dieser Fronarbeit verkauft wurden, und dem märchenhaften Reichtum des Priorauer Gutsbesitzers, der ja all die Jahre kaum mal auf seinen Gütern anwesend war, der an der französischen Riviera wohnte, der den Landarbeitern, den polnischen Saisonarbeitern und eben den Törtener Kindern den Mehrwert abpresste und dort verjubelte, dies macht das Ganze zur Unmoral, gedeckt von dem unsozialen Weimarer Staat, mit seinen die Gutsbesitzer und Fabrikanten bevorteilenden Gesetzen und der Kirche, die dies guthieß, wie Äußerungen und Taten der damaligen Pastoren und Kirchenoberen belegen.

Wenn Erika ausgelaugt von der schweren Arbeit nach Hause kam, dann gab es immer noch kein Ausruhen, denn der Bassin mußte wie jeden Abend voll gepumpt werden und es mußten noch kleinere Arbeiten in Haus und Garten verrichtet werden, wie Abwaschen oder Unkraut jäten. Ausgedörrt wie Erika nach so einem schweren Arbeitstag als Kind war, machte sie sich abends im Sommer dann eine Schüssel mit Pflücksalat mit Zucker und Essig. Anstatt daß ihre Mutter schon mal diesen Salat gepflückt hätte und zubereitet hätte, um dem abgearbeiteten Kind behilflich zu sein, gab es Häme der Familie wenn Erika den Salat aß, weil sie diesen, weil sie so abgespannt war, nicht mehr gründlich nach Ungeziefer absuchen konnte, und man machte sich lustig: „Iiih, Erika ißt wieder Schnecken und Käfer mit Salat, iiiih!“

Ein normales bürgerliches Familienleben hat meine Mutter nie kennengelernt. Zu Feiertagen und in den Ferien wurde sie von ihrer Mutter zu deren Schwester und dem Großvater geschickt, die sehr spartanische Gastgeber waren: Hunger, Hunger, Hunger!
Außer diesem ständigen Hunger dort, gefiel es meiner Mutter dort aber gar nicht mal so schlecht, weil sie am Tage machen durfte was sie wollte, was zuhause nicht der Fall war. Allerdings waren ihr Großvater, ein Denhardt (siehe auch meine Postings zu Wituland und den Denhardts) und ihre Tante sehr wortkarge Menschen. Meine Mutter konnte sich nicht erinnern, daß z.B. ihr Großvater jemals, außer ein paar wenigen Worten, sich mal mit ihr unterhalten hätte. Dies gab es im Hause Denhardt nicht, dafür wurde aber viel gelesen. Der Abend war den Illustrierten und den Büchern vorbehalten, die unter einer hell brennenden Gaslampe die an der Decke hing, konsumiert wurden. Durch diese Literaturbegeisterung dort, kam meine Mutter zu den schöngeistigen Dingen. Auch wurde im Hause Denhardt viel auf Reformhaus-Literatur gehalten. Zwei alte dieser Neuform- und Thalysia-Hefte hatte meine Mutter von dort noch in ihrem Besitz und nun besitze ich sie. Allerdings waren die Denhardts auch ein wenig antibürgerlich. So feierte man Weihnachten oder Ostern z.B. grundsätzlich nicht, ja diese Feste wurden mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn gab es z.B. zu Weihnachten eine dementsprechende Dekoration, Geschenke, eine Kerze oder dergleichen. Dies vermisste meine Mutter sehr. Da in ihrem Elternhaus aber z.B. Weihnachten gefeiert wurde, sie aber immer zu den Festen von zuhause weggeschickt wurde, ihre Schwestern aber all dies miterleben durften, wie den geschmückten Weihnachtsbaum, die Stollen, das gute Essen, sie aber erst nach Silvester wieder heimkehren durfte, sie dann gerade noch mitbekam wie der Weihnachtsbaum abgeschmückt wurde, betrübte sie dieses Aschenbrödeldasein sehr. Armut kann eventuell leicht ertragen werden, aber es ist die Ungerechtigkeit die kränken und eine Kinderseele verletzen muß, denn ihre beiden anderen Schwestern wurden nicht so stiefmütterlich von der eigenen Mutter behandelt wie sie. Trotz bester schulischer Leistungen durfte meine Mutter keine weiterführende Schule besuchen. Mit der Empfehlung der Lehrer auf die Mittelschule gehen zu sollen, kam meine Mutter z.B. nach Hause. Ihre Eltern lehnten es ab, sie wollten, daß Erika Geld verdienen solle. Für weitere Jahre auf der Schule oder für eine Lehrausbildung war angeblich kein Geld da, für die beiden Schwestern aber nahmen die Eltern diese Unkosten aber auf - wo eben die Elternliebe hinfällt!

Da Erika ein wenig Geld von der schweren Feldarbeit auf dem Gut in Priorau hatte behalten dürfen, besuchte sie deshalb von dem sauer ersparten Geld eine kleine private Handelsschule für ein paar Monate. Für wenig Honorar lernte sie dort als 13jährige an Nachmittagen nach der noch laufenden regulären Grundschule Schreibmaschine, Stenografie und kaufmännische Grundlagen. Mit diesen Kenntnissen ausgestattet suchte sie sich als 14jähriges Mädchen auf eigene Faust eine Arbeitsstelle - ein Unterfangen was bei der damaligen starken Arbeitslosigkeit nicht leicht war. Für 36 Reichsmark im Monat fing sie als vollwertige Bürokraft bei der kleinen Metallfabrik Krzisowski in der Dessauer Zimmerstraße an zu arbeiten. 20 Reichsmark mußte sie zuhause abgeben, 16 Reichsmark blieben ihr. Davon mußte sie, so verlangte es ihre Mutter, ihre eigene Seife, Zahnpasta, Hygieneartikel und ihre gesamte Kleidung und andere sonstige persönliche Dinge, wie z.B. mal eine Armbanduhr, kaufen. Erikas schlechte Kindheit war zu Ende, die Jugend begann genauso trostlos, aber es sollte für meine Mutter im Alter von 16 Jahren eine glückliche Zeit beginnen. Dies verdankte sie den Dessauer Junkers-Flugzeugwerken, wo sie später von der einfachen Schreibmaschinenkraft im Schreibbüro, wo an die 100 Frauen nur tippten, durch ihre Tüchtigkeit in wenigen Jahren bis zur Chefsekretärin im Entwurfsbüro für Flugzeugneuentwicklungen aufstieg. Aber dies ist ein ein anderes Kapitel und gehört nicht mehr zu dem Abschnitt der Kindheit meiner Mutter.

Das obige Foto zeigt meine Mutter im Alter von ca. 7-8 Jahren, genaueres weiß ich leider nicht. Beim Durchforsten der Fotos war es das einzige was ich fand, was meine Mutter in der Zeit vom 6. bis zum 13. Lebensjahr zeigt. Wie ich von meiner Mutter weiß, wurden ab und an in der Schule Fotos von einem Fotografen angefertigt. Dieser bot dann in der Schule Abzüge zum Verkauf an. Nur zwei Kinder in ihrer Klasse durften keine Fotografie kaufen. Von den zweien dieser Kinder war eine meine Mutter. Erikas Eltern hatten diesen Kauf ihr verboten! Nicht mal diese kleine Erinnerung wurde ihr bewilligt.



Keine Kommentare: