„Arbeit macht frei!“ – dieser zynische Spruch der Nazis an den Toren der KZ´s kommt nicht von ungefähr, haben doch die Deutschen seit der Herrschaft preußischer Untugenden der Arbeit einen Ethos zugesprochen die dieser nicht zusteht. Daß man arbeitet um zu leben wurde ideologisch umgekehrt und die Arbeit idealistisch überhöht. Arbeiten im Schweiße des Angesichtes sollen natürlich immer nur die anderen. Wenn pietistische Theologen Waisen oder armen Alten in Armenhäusern Demut, Disziplin und Arbeit von früh bis spät predigten, so galt dies natürlich nicht für die „gehobenen“ Stände aus dem ausbeuterischen Adel und Bürgertum. Arbeit als Strafe, verklärt als unerlässliche Erziehungsmaßname, war auch schon vor den Nazis in Deutschland weit verbreitet und hörte nach 1945 auch nicht auf. Neben den seelischen und körperlichen Quälereien gehörte z.B. die „Arbeit“ als „Erziehung“ bis weit in die 70er Jahre in den westdeutschen kirchlichen Heimen zum Alltag. Schuften bis zum Umfallen für die Kirche wurde als Menschenformung zum Besten der Fürsorgezöglinge verbrämt, siehe http://www.heimkinder-ueberlebende.org/ . Die Sozialfaschisten der SED in der DDR waren nicht besser, auch sie propagierten die „Arbeit“ zum „Wohle des Sozialismus“. Daß mit dem Wohl die Arbeit ihnen selbst, als den „Cliquen an der Macht“ (Enver Hoxha) dienen sollte, dies verschwiegen sie. Berüchtigt die DDR-Jugendwerkhöfe wo Jugendliche durch Arbeit körperlich und seelisch kaputt gemacht wurden. Aber auch der gesamte Alltag war mit diesem heuchlerischen Arbeitsethos durchsetzt, wer nur kurz nicht arbeitete wurde als Staatsfeind abgestempelt und konnte sogar im Gefängnis landen. Wichtig war dem sozialfaschistischen Regime, daß von der Wiege bis zur Bahre der Einzelne für das System zu arbeiten hatte, deshalb schon die Kinderkrippenerziehung für Kleinkinder, am liebsten ganztags zur Unterdrückung der Individualität und zur Formung kollektivistischer Menschen. Dieser Ungeist wird seit ein paar Jahren auch in der jetzigen Bundesrepublik salonfähig. Wie schon die SED-Sozialfaschisten propagiert nun auch die offizielle Politik Krippenerziehung von Babys und Kleinkindern und Ganztagsschulen bis zum 18. Lebensjahr. Freiheitlich individualistische Menschen, wie in den 70er und 80er Jahren noch propagiert, möchte man nicht mehr haben, gefragt sind „funktionierende“ Arbeitsmaschinen die im Zeitalter der Globalisierung die wirtschaftlichen Pfründe der deutschen Kapitalisten und des Überbaus des öffentlichen Dienstes weiterhin gewährleisten sollen. Arbeitslosigkeit wird als größter gesellschaftlicher Makel propagandistisch verkauft. Damit meint man natürlich nicht etwa die rund 300.000 jungen Männer zwischen 20 und 40 Jahren die nicht arbeiten, die von Ererbtem oder von dem Vermögen der Eltern, welches diese meistens als Unternehmer durch die Ausbeutung der Arbeitskraft ihrer Angestellten und Arbeiter verdienten, prächtig leben, sondern man meint die, die ohne eigenes Verschulden arbeitslos wurden und die klägliche Stütze staatlicherseits bekommen. Denen versucht man das Arbeitslosenleben so schikanös wie möglich zu machen, so z.B. mit schweren und demütigenden 1-Euro-Jobmaßnahmen und dies mit dem heuchlerischen Anspruch damit die Persönlichkeit der Betroffenen „fördern“ zu wollen. Daß mit all diesen Maßnahmen kein Einstieg in normalbezahlte Arbeit erreicht werden kann, dies ist fast allen Beteiligten klar und wird auch von namhaften Wissenschaftlern oder Politikern der FDP nicht bestritten. Wie verheerend auf die Individualität und Kreativität die Ganztagsschule sich bei den nachfolgenden Generationen auswirken wird, wenn diese flächendeckend eingeführt wird, dies ist kaum zu unterschätzen.
Mein absoluter Lieblingsautor, Robert Louis Stevenson (1850 – 1894), siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Louis_Stevenson, schrieb ein beachtenswertes Essay zu dieser Problematik. Man könnte meinen, Stevenson hätte dieses Essay gestern geschrieben, speziell für die von preußischen Untugenden verblendeten Deutschen. Den Bloglesern möchte ich empfehlen dieses Essay zu lesen, es ist wirklich richtungweisend. Anbei ein Foto von Stevenson, seine Unterschrift und eine kleine alte Landkarte der Samoa-Inseln, auf denen Stevenson bis zu seinem Tode lebte und die damals deutsche Kolonie waren.
Just in dieser Zeit, in der so viel von Vollbeschäftigung die Rede und jedermann gehalten ist, einen einträglichen Beruf zu ergreifen, um darin mit einem Eifer zu schuften, der schon an Begeisterung zu grenzen droht, dürfte ein Notschrei von Seiten der Gegenpartei jener, die zufrieden sind, wenn sie gerade ihr Auskommen haben und die übrige Zeit sich ihres Lebens freuen, einigermaßen nach Fanfaronade oder zumindest Donquichotterie klingen. Aber das ist keineswegs angebracht. Der sogenannte Müßiggang, der nicht darin besteht, daß man nichts, sondern daß man sehr viel tut, was vom orthodoxen Formelkodex der herrschenden Klasse nicht anerkannt ist, hat ein ebenso gutes Recht, seinen Standpunkt wahrzunehmen, wie die Betriebsamkeit. Es sei zugegeben, daß das Vorhandensein von Leuten die sich weigern, an dem großen Hürdenrennen nach Sechsgroschenstücken teilzunehmen, für diejenigen, die daran beteiligt sind, nicht nur eine Beleidigung, sondern auch so etwas wie eine Entzauberung darstellt. Daß es einen braven Kerl – und deren gibt´s ja immer noch viele -, der nun einmal, wie man in Amerika volkstümlicherweise sagt, „hinterm Dollar her ist“ und der auf der Jagd nach ihm im Schweiße seines Angesichts auf der Landstraße dahinkeucht, daß es einen solchen braven Mann wurmt, wenn er auf den Wiesen am Straßenrand Individuen mit einem Taschentuch über Augen und Ohren sowie einem vollen Glas bei der Hand liegen sieht, das ist durchaus verständlich. Alexander fühlte sich durch die Mißachtung des Diogenes an einer höchst kitzligen Stelle getroffen. Wo blieb das Hochgefühl der brüllenden Barbaren über ihre Eroberung Roms, als sie, in den Senatspalast eindringend, die würdigen Landesväter schweigend und ungerührt durch den vermeintlichen Sieg auf ihren Sesseln sitzen sahen? Es ist eine verdrießliche Sache, wenn man sich abrackert, steile Gipfel zu erklimmen, und dann, wenn man oben ist, der Gleichgültigkeit der Menschheit gegenüber solcher Leistung inne wird. Darum verdammen Naturwissenschaftler die Nicht-Naturwissenschaftler, haben Börsianer für Menschen, die nichts von Aktien verstehen, nur eine recht nachsichtige Herablassung übrig, verachten die Gebildeten und tun sich die Leute aller Beschäftigungsarten zusammen, um diejenigen, die überhaupt keine haben, zu verunglimpfen.
Aber das ist nur eine Schwierigkeit des Themas, nicht seine größte. Man kann nicht gut ins Gefängnis gesteckt werden, weil man gegen den Gewerbefleiß spricht; aber man kann sehr wohl ins Irrenhaus kommen, wenn man dummes Zeug redet. Die größte Schwierigkeit bei solchen Themata ist, sie richtig zu umgrenzen; ich bitte deshalb, im Auge zu behalten, daß es sich hier um eine Verteidigungsschrift handelt. Gewiss lässt sich gerechterweise vieles zu Gunsten des Fleißes vorbringen; allein, es gibt auch allerhand dagegen einzuwenden, und eben dies möchte ich bei dieser Gelegenheit zur Sprache bringen. Ein Argument vorbringen heißt ja nicht notwendigerweise, taub gegen alle übrigen zu sein, und daß ein Mann ein Reisebuch über Montenegro geschrieben hat, das ist noch kein Grund zu der Annahme, er sei nie in Richmond gewesen.
Kein Zweifel dürfte daran erlaubt sein, daß der Mensch in seiner Jugend viel müßig gehen sollte. Denn wenn auch hin und wieder irgendein Macaulay mit vortrefflichen Zeugnissen und allen Auszeichnungen die Schule hinter sich lässt und trotzdem seinen großen Verstand behält, so erkaufen die meisten Buben doch ihre Schulprämien so teuer, daß sie später überhaupt kein Pulver mehr auf der Pfanne und keinen Rappen im Sack haben und bereits bankrott ins Leben hinaustreten. Ein Gleiches gilt auch für die ganze Zeit, in der ein Junge sich selbst erzieht oder die Erziehung durch andere auszustehen hat. Es muß ein sehr dämlicher alter Herr gewesen sein, der den jungen Johnson in Oxford also anredete: „Junger Mann, setze dich jetzt fleißig hinter deine Bücher und erwirb dir einen Vorrat an Wissen; denn wenn du erst in die Jahre kommst, wirst du merken, dass das Büffeln aus Büchern eine beschwerliche Angelegenheit ist.“ Der alte Herr scheint sich nicht darüber klar gewesen zu sein, daß noch viele andere Dinge beschwerlich, einige sogar unmöglich werden, sobald man erst einmal gezwungen ist, sich der Brillengläser zu bedienen und man nicht mehr ohne einen Stock spazieren gehen kann. Bücher sind zu ihrer Zeit und auf ihre Weise vortrefflich; aber sie sind nur höchst blutlose Ersatzmittel für das Leben. Es ist ein Jammer, wenn einer, gleich der schönen Dame von Shalott in der Ballade, alleweil in den Spiegel schaut und dem Wirren und Flirren der Wirklichkeit den Rücken zudreht. Und wenn ein Mensch zu viel liest, sagt ein altes Wort, hat er keine Zeit zum Denken.
Wer auf die Jahre seiner eigenen Erziehung zurückblickt, der wird sicher nicht die lebensvollen, lehrreichen Stunden bedauern, da er die Schule schwänzte; lieber würde man die glanzlosen Zeitspannen aus dem Gedächtnis streichen, die man zwischen Schlafen und Wachen im Schulzimmer verbracht hat. Was mich angeht, ich habe zu meiner Zeit den größten Teil der Unterrichtsstunden durchschmarutzt. Ich weiß noch, daß das Drehen eines Kreisels ein Fall von kinetischer Stabilität ist. Ich weiß noch, daß Emphyteusis keine Krankheit und Stillieidium kein Verbrechen ist. Doch wenn ich mich auch nicht gern von derlei Wissensresten trenne, so lege ich ihnen doch keinen solchen Wert bei wie andern Überbleibseln aus jener Zeit, die mir von der Straße her zuflossen, wenn ich die Schule schwänzte. Es ist hier nicht der Platz, um sich über die Straße, die die Lieblingslehrmeisterin eines Dickens und eines Balzac war, als unvergleichliche Erzieherin zu verbreiten. Möge hier die Anmerkung genügen: wenn ein Junge nichts auf den Straßen lernt, dann hat er eben keine Begabung zum Lernen überhaupt. Auch treibt sich ja wer hinter die Schule geht, nicht immer bloß auf den Straßen herum, nein, und mancher Schulschwänzer zieht das vor, er wandert durch die Gartenvorstädte aufs Land hinaus. Er wird unter einem Fliederbusch am Waldrand ein Nickerchen machen und zum Gemurmel eines Bächleins unzählige Pfeifen rauchen. Ein Vogel wird im Gesträuch singen. Und der Jüngling wird dann auf irgendeinen glücklichen Gedankengang verfallen und die Dinge der Welt in einer neuen Perspektive sehen. Nun, wenn das nicht die beste Erziehung ist, was soll eine bessere sein? Und dann könnte man sich einen Herrn Simplizius Superklug vorstellen, der sich vor dem Burschen aufpflanze und ihn folgendermaßen katechisiert:
„Nun, junger Mann, was tust du hier?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, ich lasse es mir wohlergehen.“
„Ist dies nicht die Stunde der Schule und solltest du nicht fleißig hinter deinem Buche sitzen, um dir einen Schatz des Wissens anzueignen?“
„Mitnichten; auch auf diese Weise tue ich etwas für meine Bildung, mit Verlaub.“
„Bildung?! Traun fürwahr! Welcher Art, wenn ich bitten darf?
Ist es Mathematik?“
„Nein, gewiss nicht.“
„Ist es Metaphysik?“
„Auch dies nicht“
„Ist es eine Fremdsprache?“
„Nein, keinerlei Sprache.“
„Ist es ein Handwerk?“
„Nein, auch kein Handwerk.“
„Nun, was ist es demnach?“
„Nun denn, mein Herr, da ich demnächst die Lebenswanderschaft werde antreten müssen, so bin ich zu erfahren beflissen, was Menschen in meinem Fall üblicherweise tun, wo die ekligsten Tümpel und Dickichte auf meinem Wege liegen, auch welche Art von Wanderstab der dienlichste ist. Außerdem liege ich hier, um von Grund auf die Lektion zu lernen, die mein Lehrmeister mich gelehrt hat, Seelenfrieden oder Selbstgenügsamkeit geheißen.“
Worauf Herr Simplizius Superklug sehr bewegt ward in seinem Herzen, mit gar erschröcklicher Miene seinen Rohrstock schüttelte und sicher dergestalt vernehmen ließ: „Schöne Bildung! Traun fürwahr!“, so sagte er, und des ferneren: „Wenn es nach mir ginge, würden alle solchen Lümmel vom Henker ausgepeitscht!“
Worauf er denn fürbaß ging, nicht ohne seinen Stehkragen zurechtzurücken, daß die Stärke kracht, und dahinstolzierte wie ein Truthahn, der die Federn spreizt.
Nun ist aber diese Meinung des Herrn Superklug, die allgemeine. Eine Tatsache wird nicht als Tatsache, sondern als ein Stück Klatsch betrachtet, wenn sie nicht unter die Schulfächer fällt. Forschung muss nach einer anerkannten Richtung hin betrieben werden, unter einem bestimmten Etikett; sonst bist du kein Forscher, sondern ein Faulenzer, und der Arbeitsdienst ist gerade gut genug für dich. Als wenn alles Wissen auf dem Boden eines Brunnens oder am andern Ende eines Fernguckers läge. Sainte-Beuve war, je älter er wurde, um so überzeugter davon, daß alles Erleben ein einziges großes Buch sein, in dem man die paar Jahre, bevor man von hinnen geht, studieren soll; daß es aber ganz gleichgültig sein, ob man das Kapitel XX aufschlägt, in dem die Differentialrechnung, oder Kapitel XXXIX, darin von einer Kurkapelle ein Musikstück vorgetragen wird. Es ist ja denn auch Tatsache, daß ein intelligenter Mensch, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, mit lächelndem Gesicht mehr echte Bildung aufnimmt, als ein anderer, wenn er sein ganzes Leben lang mit heroischen Nachtwachen verbringt. Auf den Gipfeln der schwer erarbeiteten Formalwissenschaft lässt sich gewiss viel kühles, trockenes Wissen ergattern; aber du brauchst bloß um dich herumzublicken, und die bebenden blutwarmen Tatsachen werden dir zuströmen. Während andere ihr Gedächtnis voll stopfen mit Wortballast, von dem sie die Hälfte noch vor Ende der Woche vergessen haben, lernt der sogenannte Tagedieb mancherlei wahrhaft nützliche Künste, als da sind: Geige spielen, gute und schlechte Zigarren unterscheiden oder mit allen möglichen Arten von Leuten in fließender und umgänglicher Weise zu sprechen. Viele, die fleißig hinter ihrem Buch gesessen haben – und nun irgendeinen oder den andern abgestempelten Wissenszweig beherrschen, kommen mit dem Gehaben einer alten Eule aus dem Studierzimmer und erweisen sich als trockene, steife und mit zuviel Magensäure behaftete Hänse, sobald sie sich den schöneren und helleren Partien des Lebens gegenübersehen. Es gibt auch solche, die große Vermögen erwerben und dabei bis zum Ende von einer geradezu rührenden Unbildung und Blödheit bleiben.
Indes, schaut euch den Müßiggänger an, der zusammen mit jenen ins Leben hinaustrat! Welch ein ander Bild, mit Verlaub, zeigt der ! Er hat Zeit gehabt, seine Gesundheit und seinen Geist zu pflegen, er hat viel in der freien Luft gelebt, die das Heilsamste für Leib und Geist ist. Sollte man nicht meinen, der Gelehrte gäbe ein paar von seinen indogermanischen Sprachwurzeln und der Geschäftsmann einige von seinen Silberlingen her für die Lebenskenntnis und Lebenskunst des Müßiggängers? Weit gefehlt; dabei hat der Müßiggänger eine weitere, noch viel wichtigere gute Eigenschaft. Nämlich seine Lebensweisheit. Er, der oft die kindische Befriedigung anderer Leute über ihre Steckenpferde beobachtet hat, sieht auf seine eigenen nur mit einer ironischen Nachsicht herab. Man wird seine Stimme nicht im Kreis der Dogmatiker hören. Er wird sich großzügig und kühl mit Leuten und Meinungen aller Art abfinden. Wenn er keinerlei ausgefallene Wahrheiten findet, so wird er sich auch keine wirklich handgreiflichen Falschheiten zu eigen machen. Sein Pfad geht eine Seitenstraße entlang, die , nicht viel begangen, doch hübsch eben und erfreulich, der „Mittelweg“ heißt und zur schönen Aussicht des gesunden Menschenverstandes führt. Von dort aus beherrscht er einen angenehmen, wenn nicht gar sehr noblen Rundblick, und während die Anderen den Osten und den Westen, den Teufel und den Sonnenuntergang im Auge haben, wird ihm die befriedigende Anschauung von etwas wie einer immerwährenden Morgenstunde über allen irdischen Dingen, in der ein Heer von Schatten eilig und nach allen Richtungen der Windrose dahinläuft ins hohe Tageslicht der Ewigkeit. Die Schatten wie die Geschlechter, die kreischenden Doctores und die dröhnenden Kriege, alle gehen sie dahin in die letzte Stille und Leere, doch darunter vermag ein Mensch, von den Fenstern jenes Aussichtstempelchens aus, viel grüne und friedfertige Landschaft zu erschauen, viele vom Kaminfeuer erhellte Wohnstuben, viele lachende, trinkende, liebende Leute, die noch genau so tun, wie sie vor der Sintflut und vor der Französischen Revolution getan haben.
Aufs Äußerste getriebene Geschäftigkeit, sei es nun in Schule und Hochschule, Kirche oder Markt, ist ein Symptom geschwächter Vitalität, während die Fähigkeit zur Faulheit mit einem normalen Appetit und einem starken Sinn für eine mit sich selbst im Einklang befindliche Persönlichkeit einhergeht. Es gibt so eine Sorte ledernen, leeren Gelichters, das sich seinen Lebens bloß bei der Ausübung irgendeiner konventionellen Tätigkeit bewusst wird. Bringt man solche Burschen aufs platte Land hinaus oder versetzt man sie an Bord eines Schiffes, so vergehen sie vor Heimweh nach ihrem Schalter oder ihrem Schreibtisch. Keinerlei Neugierde ist in ihnen, sie können sich keinem von ungefähr auftauschenden Reiz hingeben, es macht ihnen keine Freude, ihre Fähigkeiten zu betätigen um der Betätigung willen, und wenn die Not nicht mit dem Stock hinter ihnen steht dann treten sie gar ganz auf der Stelle, Mit solchem Volk ist nicht gut reden, sie können eben nicht müßig sein, ihre Natur ist dazu nicht großzügig genug, die Stunden, die sie nicht der Abrackerei in der Tretmühle des Goldmachens widmen, bringen sie in einer Art Agonie hin. Wenn sie nicht ins Büro gehen müssen, wenn sie nicht gerade Hunger oder Lust auf einen Trunk verspüren, so ist die ganze atmende Welt für sie ein leeres Blatt. Wenn sie ein Stündchen auf einen Zug zu warten haben, dann verfallen sie mit offenen Augen in einen hypnotischen Zustand der Verblödung. Wenn man sie anschaut, müsste man meinen, es gäbe überhaupt nichts zu sehen, es wäre kein Mensch vorhanden, mit dem man reden könne, man könnte sich einbilden, sie wären gelähmt oder schwachsinnig, und dabei sind sie auf ihre Weise Schwerarbeiter und haben einen scharfen Blick für jeden Bock in einem Aktenstück oder für jede Schwankung an der Börse. Sie waren auf der Schule und auf der Hochschule, aber stets und ständig war ihr Auge auf die Schlussprämie gerichtet, sie haben sich in der Welt umgetan und unter tüchtige Leute gemischt, doch stets und ständig haben sie an ihre Geschäfte gedacht. Als wenn eines Menschen Seele nicht schon von Anbeginn an zu klein wäre, haben sie die ihre noch verzwergt und verengt durch ein Leben, in dem es bloß Arbeit und gar kein Spiel gab, bis sie nun mit vierzig Jahren dastehen, in teilnahmsloser Gespanntheit, das Hirn entleert von jeglichem Stoff zu ergötzlichem Zeitvertreib und nicht auf den kleinsten Gedanken verfallen mittels dessen sie mit einem Andern in Fühlung kommen könnten, während sie auf den Zug warten. Bevor so ein Mensch die ersten Hosen anbekam, ist er ja wohl auf den Schränken herumgeklettert; als er zwanzig war, hat er gewiß die Mädels angegafft; doch jetzt ist die Pfeife ausgeraucht, die Tabakdose leergeschnupft, und der gute Herr sitzt bolzenstark, aber mit kläglichen Augen auf der Bank. Das spricht einen nicht gerade an als Beispiel für ein „von Erfolg gekröntes Leben“.
Aber es ist ja auch nicht lediglich das Individuum selbst, das unter der gewohnheitsmäßigen Betriebsamkeit leidet, sondern auch seine Frau und seine Kinder, seine Freunde und Verwandten bis hinunter zu den Leuten, mit denen es im Eisenbahn- oder Straßenbahnwagen sitzt. Immerwährende Hingabe an das, was ein Mann sein Geschäft nennt, kann bloß aufrechterhalten werden durch immerwährende Vernachlässigung anderer Dinge. Und es ist auch keineswegs ausgemacht, daß das Geschäft eines Menschen das Wichtigste wäre, was er zu tun hätte. Einem unparteiisch einschätzenden Blick wird es deutlich erkennbar sein, daß viele der weisesten, wirksamsten und wohltätigsten Rollen auf dem Theater des Lebens von Darstellern ohne Gage ausgefüllt werden und beim großen Publikum als müßige Spielereien gelten. Denn in diesem Theater spielen in Tat und Wahrheit nicht bloß die stolzierenden Elegants, die singenden Soubretten und die eifrigen Musikanten im Orchester ihren Part herunter, sondern auch die Zuschauer und die Klatscher, und sie leisten jeder an seinem Teil einen wichtigen Beitrag zum Gesamtergebnis.
Unzweifelhaft bist du höchst abhängig von der Sorgfalt deines Anwalts oder Maklers, von den Fahrern und Bahnwärtern, die deine rasche Ortsveränderung gewährleisten, ja, auch von dem Schutzmann, der auf der Straße eben zu deinem Schutz umhergeht, aber ist denn in deinem Herzen keinerlei Dankbarkeit vorhanden für gewisse andere Wohltäter, die dir ein Lächeln auf dein Gesicht zaubern, wenn sie dir in den Weg laufen, oder die dein Mahl mit guter Gesellschaft würzen? Falstaff war gewiß kein nüchterner noch ein sehr redlicher Kumpan, aber es will mich bedünken, als könne man den einen oder andern langgesichtigen Schächer aufzählen, den die Welt lieber hätte missen mögen als den dicken Ritter, Ich weiß, es gibt Menschen auf der Welt, die ein Gefühl der Dankbarkeit nur aufbringen, wenn die Liebe, die man ihnen angetan, einem Schmerz und Mühe gemacht hat. Aber das zeugt von einer gemeinen, filzigen Gemütsart. Jemand schickt dir sechs Bogen Briefpapier ins Haus mit dem unterhaltsamsten Klatsch darauf oder du bringst eine vergnügliche, vielleicht sogar eine lehrreiche halbe Stunde mit der Lektüre des Aufsatzes eines Andern zu: bildest du dir ein, der dir geleistete Dienst sei größer, wenn der Mann sein Manuskript mit seinem Herzblut geschrieben hätte, als wär´s ein Pakt mit dem Satan? Freuden sind wohltuender als Pflichten, weil sie, gleich der Gnade, keine Anstrengung erfordern, und so sind sie doppelt gesegnet. Zu einem Kuss gehören immer zwei, aber wo immer eine Gunst mit einem Opfer verbunden ist, bereitet sie dem Geber Schmerz und dem Empfänger Verlegenheit.
Keine Pflicht unterschätzen wir so sehr als die Pflicht, glücklich zu sein. Wer glücklich ist, der streut, ein ungenannt bleibender Spender, den Samen von Wohltaten aus, von denen wir selbst nichts wissen oder die, wenn sie doch einmal zutage treten, niemand mehr verblüffen als den Wohltäter selbst. Letzthin lief da einmal ein zerlumpter, barfüßiger Bub auf der Straße einem Murmel nach, und er tat das in einer so vergnügten, drolligen Art, dass er alle Vorübergehenden in gute Laune versetzte; einer von diesen, die dadurch von ungewöhnlich trüben Gedanken befreit wurden, hielt das Bürschchen an und gab ihm ein Geldstück mit der Bemerkung: „Da siehst du, was manchmal dabei herauskommt, wenn man vergnügt aussieht. „Ich für meinen Teil bin dafür, dass man lieber lachende als weinende Kinder ermutigen soll; für Tränen zahle ich Geld nur gern im Theater; ich bin jedoch gern bereit, für den entgegengesetzten Bedarfsartikel einen guten Preis anzulegen. Einen glücklichen Mann oder eine glückliche Frau zu finden, ist besser als eine Fünfpfundnote. Er oder sie werfen ein Strahlenbündel guten Willens in die Welt; und treten sie in ein Zimmer ein, so ist es, als sei ein weiterer Lüster angezündet worden. Es braucht uns nicht zu kümmern, ob sie den pythagoräischen Lehrsatz beweisen können; sie tun ja etwas weit Besseres; sie führen den praktischen Beweis für den Lehrsatz von der „Lebbarkeit“ des Lebens.
Folglich, falls ein bestimmter Mensch nur glücklich sein kann, wenn er faul ist, nun, so soll er in Gottes Namen müßig gehen. Es ist eine revolutionäre Lehre ---- doch dürfte, dank dem Hunger und dem Arbeitsdienst, nicht allzu viel Mißbrauch mit ihr getrieben werden; und innerhalb vernünftiger Grenzen ist sie eine der unumstößlichsten Wahrheiten der gesamten Sittenlehre. Bitte sehr, schaut euch doch nur einmal einen von diesen betriebsamen Herren an! Er sät Hetze und erntet Verdauungsstörung; er legt ein Riesenkapital in Tätigkeit zur Verzinsung an und empfängt dafür eine hochgradige Nervenzerrüttung. Entweder zieht er sich selbst von allem Verkehr mit Menschen zurück in eine stille Klause unterm Dach, mit Filzpantoffeln an den Füßen und einem messingenen Tintenfaß auf dem Tisch, oder er läuft abgehetzt und verbittert mit ewig gespanntem Nervensystem unter den Leuten herum, stets drauf und dran, seine üble Laune an jemand auszulassen, bevor er wieder an die Arbeit geht. Was geht mich das an, wie viel und wie gut er arbeitet; der Kerl vergällt seinen Nebenmenschen das Leben. Sie wären glücklicher, wenn er nicht auf der Welt wäre. Er ist ein Brunnenvergifter. Besser, von einem liederlichen Neffen an den Bettelstab gebracht, als Tag für Tag von einem knickrigen Onkel auf die Folter gespannt zu werden.
Und wozu denn um des Himmels willen das ganze Getue und Getümmel? Weshalb verbittern die Leute sich ihr eigenes und ihrer Nebenmenschen Leben? Ob einer im Jahr drei oder dreißig Artikel veröffentlicht, ob einer ein großes allegorisches Gemälde fertig stellt oder nicht, das sind Fragen von recht geringfügigem Belang für die Welt. Die Reihen des Lebens sind wohlaufgefüllt; und mögen Tausende fallen, immer sind welche da, die in die Bresche springen. Als man der Jungfrau von Orleans vorhielt, sie solle heimgehen und Weiberarbeit tun, antwortete sie, zum Spinnen und Waschen seien genug Frauen da. Und so steht´s auch mit deiner „seltenen Begabung“! Wenn die Natur „so sorglos mit Einzelleben umgeht“, warum sollen wir uns verhätscheln, bloß weil wir uns einbilden, gerade unser Leben sei von ausnahmsweise hoher Bedeutung? Angenommen, Shakespeare hätte eines Nachts im Jagdrevier von Sir Thomas Lucy einen Schlag über den Schädel bekommen, die Welt wäre schlecht und recht ihres Weges weitergewackelt, der Krug wäre zum Brunnen gegangen, die Sichel hätte ins Korn geschnitten und der Student hätte in seinem Buch gebüffelt; und kein Mensch hätte überhaupt Wind bekommen von dem Verlust. Wenn man alles in allem überblickt, so zeigt es sich, daß es nicht viele Werke auf der Welt gibt, die für einen Mann mit beschränkten Mitteln den Preis eines Pfundes Tabak wert sind. Das ist eine ernüchternde Überlegung für die stolzesten unserer irdischen Eitelkeiten. Nicht einmal ein Tabakhändler kann in diesem Satz bei näherer Betrachtung groß Ursache zur Hoffärtigkeit entdecken; denn wiewohl Tabak ein wunderbares Genuß- und Beruhigungsmittel ist, die Begabung zu seinem Verschleiß ist an sich weder selten noch wertvoll. Ach ja, wie man die Sache auch dreht und wendet, auch nicht eines einzigen Individuums Dienste sind unerlässlich und unersetzlich. Atlas war bloß ein besserer Herr, auf dem ein sich etwas in die Länge ziehender Albdruck lastete! Und doch sieht man immer wieder Kaufleute, die hingehen und sich erst ein riesiges Vermögen zusammenschuften und sich dann eine ebenso riesige Pleite zusammenschustern; Schreiberlinge, die sich mit dem Geschmier von kleinen Artikeln abrackern, bis ihre schlechte Laune ein Kreuz für jeden wird, der ihnen in die Nähe kommt, als ob Pharao das Judenvolk zur Herstellung einer Stecknadel statt einer Pyramide aufgeboten hätte; und hübsche, gesunde Jünglinge, die sich die Auszehrung an den Leib arbeiten, um dann auf einem Leichenwagen mit weißen Federbüschen zum Kirchhof gefahren werden.
Man möchte ja geradezu meinen, diesen Leuten sei vom Großen Zeremonienmeister das Versprechen einer Gott weiß wie wichtigen Schicksalsbestimmung zugeraunt worden, und die lauwarme Kugel, auf der sie ihre Affenkomödien spielen, sei das Guckloch und der Mittelpunkt des ganzen Weltalls. Doch dem ist ja nicht so. Die Ziele, um derentwillen sie ihre unbezahlbare Jugend hingeben, erweisen sich vielleicht als nebel- oder schmerzhaft, Ruhm und Reichtum, denen sie nachjagen stellen sich möglicherweise niemals ein oder lassen sie kalt, sobald sie einmal da sind; und überhaupt sind sie selber und die ganze Welt, in der sie hausen, von einer Unbeträchtlichkeit, daß einem bei dem Gedanken daran das Hirn zu Eis gerinnt.
Robert Louis Stevenson
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