Samstag, 1. Februar 2020

Mein früherer Nachbar, der Milchhändler auf dem Knarrberg in Dessau-Ziebigk



Rund 40 Jahre lang wohnte ich mit meinen Eltern auf dem Knarrberg in Dessau-Ziebigk und dies ab dem 6. Lebensjahr. Unserer Nachbarn, die Familie Wolter, hatten in der Garage neben unserer Garage ein Milchgeschäft, welches zu meiner Zeit schon ein HO-Geschäft war, Herr Wolter war aber weiterhin der Verkaufsstellenleiter. 

Auf obigem Foto sieht man mich in unserem Vorgarten an den Weidenbaum angelehnt und ein kleines Stück des Wolterschen Ladens, dazu das "Werbeschild", eine Tafel auf der mit Kreide das Tagesangebot drauf stand. 


Tagesangebot bei Milch-Wolter in den 1950er Jahren:
Margarine: Sahna, Vita, Marina, Sonja
Fleischsalat stets frisch im Kühlschrank
Käse: Schipka, Schmelzkäse, Harzer Käse, Limburger

Auf dem sw-Foto zeigt der erste Pfeil auf das Milchgeschäft Wolter mit den großen Milchkannen und der zweite Pfeil auf unser Haus. Zu diesem Laden, siehe auch:

http://barrynoa.blogspot.com/2012/05/dessau-ziebigk-in-den-50er-jahren-von.html

Neben Milch gab es bei Wolter auch andere Molkereiprodukte, wie Butter, Käse, Fleischsalat, Brause und Bier. Was es eigentlich immer gab, war Milch, Butter und Harzer Käse. Alles andere gab es nicht immer! Also, auch der gute Camembert mit dem "Kyritzer Knatterfrosch" auf der Verpackung drauf, den gab es nur alle paar Wochen mal. Als Kind fand ich diesen Camembert toll. Das hatte wahrscheinlich mit der interessanten Verpackung zu tun, wo ein grüner Frosch abgebildet war, der noch dazu „Kyritzer Knatterfrosch“ hieß. Leider habe ich mir eine solche Verpackung nie aufgehoben und sie auch nicht im Internet gefunden. 

Während die Lebensmittel in der DDR spottbilig waren, waren sie doch staatlich subventioniert, da Politik war, daß jeder Bürger auch der Ärmste, satt werden sollte, so waren Kakaoprodukte sehr teuer. Da Kakao auf dem Weltmarkt mit Devisen eingekauft werden mußten, kosteten Kakaoprodukte sehr viel, zumindestens in den Anfangsjahren der DDR. 

Wolter hatte nur ein kleines Sortiment an Süßigkeiten, wobei ich mich an drei Sorten noch heute gut erinnern kann. Sehr, sehr selten konnte ich mir die kleine Packung „Mokka-Bohnen“ von Bergland leisten, kostete doch die 50 Gramm-Packung 2,40 Mark. Bei einem monatlichen Taschengeld von 10 Mark, wo der Großteil für meine geliebten Bücher und Zeitschriften drauf ging, war mir das kaum möglich zu kaufen. Vielleicht gerade deshalb ist mir der köstliche Geschmack dieser wundervollen Mokka-Bohnen noch heute im Gedächtnis. Zu schade, daß, wie fast alles, diese Mokka-Bohnen nicht mehr produziert wurden, verdrängt von Westprodukten.



Preiswert waren dagegen die „Bergland-Kakao-Bonbons“, wo wenig Kakao drin war. So besonders fand ich sie eigentlich gar nicht, aber ich fand die Schachtel toll, führte sie doch einen in der Fantasie in so ein fernes Kakaoland.


Sehr billig waren die „Henri-Milchecken“, die von Kindern deshalb sehr viel gekauft wurden. Von mir allerdings nur ab und zu mal. 



Für mich war es als Kind angenehm mal schnell rüber in den Laden zu gehen und etwas zu kaufen, das wog aber nicht den Krach auf, den das Milchgeschäft machte, denn die Kunden standen fast immer in einer Schlange an und schnatterten laut, dazu kam der morgendliche Krach mit dem Transport der großen Milchkannen, die angeliefert wurden, während die leeren wieder abgeholt wurden. Auf dem Hof der Wolters wurden die großen Milchkannen gewaschen, was immer mächtig schepperte. Dazu kam das laute Geräusch der großen Kühlschränke, die in einem Holzschuppen der Wolters untergebracht waren, der direkt an der Grenze zu uns stand. Mit heutigen Kühlschränken kann man diese alten lauten Dinger überhaupt nicht vergleichen. Also ruhiges Wohnen war nicht! Es war also nicht alles Sonnenschein mit unserer Wohnsituation.

Eigentlich mochte ich die Wolters nicht. Das hatte mehrere Gründe. Da war zum einen, daß Herr Wolter meinen Dackel nicht mochte, immer auf ihn einschimpfte wenn er im Garten war. Aber Fanny mochte ihn auch nicht, das bewies ihr Anknurren wenn sie ihn nur sah. Außerdem tat mir der eine Sohn der Wolters leid, der als Epileptiker in seinen Holzpantinen Tag für Tag den Gartenweg entlang ging, immer freundlich zu mir war. Schrecklich, wenn Frau Wolter diesen behinderten Sohn so extrem schlug, daß es mir durch Mark und Bein ging, wie er schrie. Und dies nur, weil er bei einem Epilepsie-Anfall ins Bett gemacht hatte. Da wurde die Woltern zur Furie - widerlich. Genauso hatte mich als Tierfreund empört, als meine Nachbarn ein lebendes Schwein auf ihren Hof brachten und es dort schlachten ließen. Das Schwein schrie jämmerlich. 

Außerdem hatte Herr Wolter die Unart an sich, seine Zigarrenstummel immer in unseren Vorgarten oder Garten zu schmeißen. Es war meine Aufgabe diese aufzusammeln und in die Mülltonne zu schmeißen. Das ging jahrelang so. Als Handelsmann saß Herr Wolter auf dem hohen Roß und ließ sich nichts sagen, stand über den Dingen. Gegen Handelsleute traute sich kaum jemand anzugehen, war doch Ware knapp und wer bei Händlern verschissen hatte, der bekam keine Mangelware und Mangelware war fast alles, außer den Grundnahrungsmitteln.

Was ich schon als Kind sah, daß sich der alte Spruch "Ist der Handel noch so klein, bringt er mehr als Arbeit ein" bewahrheitete. Verkaufsstellenleiter bei der HO verdienten damals offiziell unter 400 Mark im Monat und trotzdem lebten die Wolters auf hohem Fuße. Mein Vater hatte das dreifache an Gehalt, trotzdem konnten wir uns nicht das leisten was sich Wolters leisten konnten. Aber das war bekannt, daß sich Verkaufsstellenleiter und besonders Gaststättenleiter in der DDR eine goldene Nase verdienten. Ihre Chefs in den Verwaltungen, die offiziell ein mehrfaches an Gehalt bekamen, konnten das nicht. Nur einmal wurde das schöne Händlerleben getrübt, als Wolter verhaftet wurde und wegen Milchpanscherei zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren verurteilt wurde. Er soll die Milch in den großen Milchkannen mit Wasser verdünnt haben. Lange war er allerdings nicht im Gefängnis und er wurde danach wieder als Verkaufsstellenleiter seines HO-Ladens eingesetzt. In der DDR war alles möglich, wenn man nur die richtigen Kontakte hatte.

Wenn ich immer von "unserem" Haus auf dem Knarrberg schreibe, wo ich an die 40 Jahre gelebt habe, dann meine ich mit "unser" nicht, daß es unser Besitz gewesen wäre. Wir wohnten dort zur Miete. Der Besitzer war ein legal nach dem Westen ausgereister Kirchenmann, der die ganzen Jahrzehnte das Haus nicht verkaufen wollte, sondern über eine Verwalterin nur die Miete kassierte. Baulich tat er nichts am Haus, so daß wir alle Reparaturen, und deren gab es in Massen, auf unsere Kosten ausführen mußten, da wir dort nicht weg wollten. Die Wende war für uns ein Fiasko, denn noch vor der Währungsunion im Mai 1990 standen Wolters vor unserer Tür und zeigten uns ein Schreiben, daß die 18jährige Enkelin nun Besitzer unseres Hauses wäre und wir ausziehen müssen. Meine Mutter bekam fast einen Schlaganfall, denn sie hatte den Garten all die Jahre zu einem kleinen Paradies gestaltet und hing an ihrem zuhause, wie auch ich und mein Vater. 

Wieso die Wolters zu dem Haus kamen, ist schnell erzählt. Meine Mutter machte den großen Fehler, der Frau Wolter davon zu erzählen, daß wir den Westbesitzer angeschrieben hätten, ob er uns nicht das Haus verkaufen würde, aber keine Antwort bekommen hätten. Frau Wolter bot sich heimtückisch an, daß sie doch mal den Besitzer anschreiben würde, um sich für uns einzusetzen. Meine Mutter gab ihr arglos die Adresse. Statt sich aber für uns einzusetzen, boten die Wolters an das Haus für ihre Enkelin zu übernehmen. Darauf ging der Wessie ein, weil er annahm, daß es in "gute" Hände käme, statt an einen SED-Genossen, wie mein Vater einer war, an "ehrenwerte" Leute. Was er nicht wußte, und das zeigt wie primitiv Wessies dachten, daß mein Vater aus der SED längst ausgetreten war, und das hatte damit zutun, siehe den Anhang am Ende des Blogbeitrags.

Auch ich war schon 1987 aus der LDPD ausgetreten und meine Mutter war nie in irgendetwas. Die Enkelin aber, die der Wessie bedachte, die war noch im Oktober 1989 in die SED eingetreten, was groß in der Zeitung stand (Nach der Wende, wie viele Wendehälse, schnell wieder ausgetreten). Doch den von der Jugendlichkeit der 18jährigen verzauberten alten Wessie-Knacker interessierte das nicht. Die Enkelin bekam das Haus von dem alten Herrn. Mit rigorosen Methoden wurden wir aus dem Haus vertrieben. Das ging schon damit los, daß Wolters kurze Zeit nach Übernahme, ohne Ankündigung, über ihren Garten in "unseren" Garten mit einem Tross Arbeiter kamen, und in einer Handstreich-Aktion alle Bäume absäbelten (außer dem Aprikosenbaum, dessen Früchte sie sich nicht entgehen lassen wollten, da sie köstlich schmeckten), alle Sträucher rodeten, alles, aber auch alles an Pflanzen vernichteten. 

Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt allein im Haus und wußte sich nicht zu helfen, war nur geschockt. Legal war das nicht, denn wir hatten ja einen Mietvertrag mit Garten, aber was nutzt ein späteres Gerichtsverfahren, wenn alles in Trümmern liegt. Wolters wußten, daß meine Mutter an dem Garten hing und ohne ihn nun ausziehen würde. Wir hatten insofern noch Glück, daß wir nach dem Tod meines Opas in das Haus meiner Großeltern nach Törten ziehen konnten. Wäre diese Möglichkeit nicht gegeben gewesen, eine Wohnung hätte man in dieser chaotischen Zeit so schnell nicht bekommen. Trotzdem viel uns der Wegzug von dort sehr schwer, denn auch mir war der Knarrberg, trotz vieler schlechter Dinge dort, Heimat, die uns durch die Wende genommen wurde.  

Noch ein paar Links zu meiner Kindheit auf dem Ziebigker Knarrberg:

http://barrynoa.blogspot.com/2013/10/alte-heimat-die-knarrberg-siedlung-in.html
http://barrynoa.blogspot.com/2014/10/meine-kindeheit-in-dessau-ziebigk-alte.html
http://barrynoa.blogspot.com/2013/08/erinnerungen-mein-fruheres-zuhause-in.html



Anhang:

Die kleinen Büttel auf den unteren Ebenen in der DDR waren oft eilfertigere Hardliner als die Spitze um Honecker. Bestes Beispiel war der Beschluß der Regierung der DDR, daß auch Nichtrentner bei dringenden Familienangelegenheiten in den Westen reisen dürfen, ein durchaus humanes Anliegen der Staatsoberen, welches allerdings bei den kleinen Bütteln unten immer wieder sabotiert wurde. 

Als meine liebe Oma, die in Westdeutschland wohnte, sehr schwer krank wurde und die Ärzte des Krankenhauses uns ein umfangreiches Attest sendeten, daß Oma Martha nur noch kurze Zeit zu leben hätte, da war das Gesetz gerade ein paar Wochen alt, daß mein Vater als Sohn hätte zu ihr fahren dürfen. Mein Vater stellte den Antrag sofort, statt aber die Reisegenehmigung zu bekommen, wurde er zur SED-Kreisleitung bestellt, zum damaligen Chef, einem Typen namens Karl Hertel. Statt meinem Vater sein Bedauern über die Krankheit der Mutter auszudrücken, hielt er meinem Vater eine Standpauke, daß er als Wirtschaftsfunktionär und SED-Mitglied so einen Besuchsantrag nicht zu stellen hätte, auch wenn ihm das gesetzlich zustände und machte meinen Vater herunter, drohte mit beruflichen Konsequenzen (die dann später auch eintraten). 

Der lange Arm der SED-Kreisleitung reichte weit, mein Vater bekam keinen Reisepaß für den Besuch seiner Mutter. Wir waren zuhause geschockt, da immer dringlichere Anrufe aus dem Krankenhaus kamen, daß Oma immerzu nach ihrem Sohn rief, denn sie spürte den nahenden Tod. Vater sah nur einen Ausweg, eine Eingabe bei Honecker in dessen Bürgerbüro. Von dort kam grünes Licht, aber die Typen der SED-Kreisleitung nahmen es mehr als übel, daß mein Vater sich über Dessau beschwert hatte. Vater durfte fahren, aber ehe die Stempel etc. unter den Papieren waren, da war Oma gestorben, ohne daß sie ihren Sohn noch einmal gesehen hatte, was sie sich so sehnlich gewünscht hatte. Vater durfte eine Woche dort bleiben und es blieb ihm nichts anderes übrig als nur noch die Beerdigung zu organisieren. 

Als er zurück kam, da wurde er als Vorstandsvorsitzender der Dessauer Konsumgenossenschaft abgelöst, als politisch nicht tragbar, und dies wo sich mein Vater Zeit seines Lebens für die DDR eingesetzt hatte. Wir erlebten eine schlimme Zeit als mein Vater arbeitslos wurde, kein Betrieb traute sich ihn anzustellen, wahrscheinlich war das eine Weisung der SED-Kreisleitung. Einen ganz, ganz miesen Posten im Kohlehandel bot man ihm an, und das jemandem, der Diplom-Wirtschaftswissenschaftler war, mit Auszeichnung die Uni abschloß und in den 1950er Jahren persönlicher Referent des Ministers für Handel und Versorgung in Ostberlin war. Nur dem persönlichen Kontakt (er lag mit ihm über 4 Wochen in einem Zimmer im Krankenhaus) zu einem Direktor des Chemiekombinats Bitterfeld war es zu verdanken, daß er wieder Arbeit bekam. Die verbrecherischen Krakenarme der Dessauer SED-Kreisleitung reichten nicht bis ins Chemiekombinat Bitterfeld, was diese Bande sehr ärgerte. Dieser CKB-Direktor hatte beste Beziehungen nach Berlin, war doch das CKB einer der Vorzeigebetriebe der DDR und setzte sich für meinen Vater ein, so daß er bis zu seiner Rente in Bitterfeld arbeiten konnte. Daß mein Vater aber nichts mehr von der SED wissen wollte, war verständlich. 

Diese miese deutsche Mentalität der Büttel auf unteren Ebenen aus Niedertracht bestehende Gesetze noch zu verschärfen oder gar zu unterlaufen, diese Mentalität zieht sich durch die deutsche Geschichte wie ein roter Faden. Nach 1945 hätten die Siegermächte die Möglichkeit gehabt die Deutschen umzuerziehen. Anfänge waren mit der Reeducation gemacht (Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Reeducation ), aber leider wieder nach kurzer Zeit abgebrochen, so daß sich deutscher Ungeist ungehindert fortsetzen konnte, sowohl in Westdeutschland wie auch in der DDR.

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