Samstag, 20. September 2014

70er Jahre in der DDR: Poesie, Proletarier, Proleten und Pöbel


90 Pfennige kostete ein im Verlag Neues Leben zu DDR-Zeiten erschienenes Lyrik-Heft, was etwas großspurig unter dem Namen „Poesiealbum“ firmierte, wenngleich es ja kein Album war, sondern ein dünnes Heft mit nur jeweils rund 30 Seiten, siehe die beiden von mir eingescannten Hefte.

Ich fand die Hefte wundervoll, boten sie doch einen Querschnitt des modernen Lyrikschaffens. Ohne Kultur, ohne Kunst, ohne Literatur, ohne Lyrik, da hätte ich nicht leben wollen! Es gab in Dessau ja zum Glück viele Gleichgesinnte, man traf sich im Klub der Intelligenz, siehe: http://barrynoa.blogspot.de/2008/05/in-schner-erinnerung-der-klub-der.html und http://barrynoa.blogspot.de/2008/06/nachtrag-in-schner-erinnerung-der-klub.html, bei Ausstellungseröffnungen in der Galerie Schloß Georgium oder bei der Schriftstellerin Christa Borchert in ihrem Laden, siehe: http://barrynoa.blogspot.de/2013/02/christa-borchert.html.

Kultur und Kunst sollte auch dem kulturfernen Volk zugänglich gemacht werden und neben extrem billigen Theaterkarten für Werktätige, da boten auch die „Zirkel Schreibender Arbeiter“ Menschen die Möglichkeit sich literarisch zu entfalten. Rückblickend gesehen, da muß ich leider feststellen, daß vielleicht nur 10 Prozent der Werktätigen sich geistig-kulturell weiter entwickelten. Bei den meisten wurde Kultur nur als lästig empfunden, nötig nur um es abrechnen zu können, für ihre Brigadetagebücher, wo der Besuch von kulturellen Veranstaltungen Pluspunkte einbrachte für die Prämienauszahlungen auf Arbeitsleistungen.

Es gab ihn schon, den allseitig geistig-und kulturell interessierten Proletarier, aber er war auch in seiner Brigade eher ein Sonderling. Das Gros der Arbeiter waren Proleten und sehr viel Pöbel, bei denen Hopfen und Malz verloren war. Aus kulturfernem Proletenmilieu stammend, war ihnen Kleinbürgerlichkeit noch das höchste von ihnen zu erreichende Ziel. Schlager statt klassischer Musik oder Jazz, Schrebergarten statt Besuch von Parkanlagen, Trivialliteratur statt guter Literatur, Grillwurstfeste statt Ballett und Saufen statt Interesse an Wissenschaft - dies mal so vergröbernd den damaligen Proleten und den Pöbel einordnend.

Das schlimme an der DDR-Gesellschaft war, daß nicht nur das Gros der einfachen Werktätigen so war, sondern in den Leitungen der volkseigenen Betriebe saßen von unten nach oben gespülte derartige Typen. Es war ein stetiger Kampf von uns Kulturmenschen bei den Betrieben die nötige Unterstützung finanzieller und sachlicher Art abzufordern, zu denen die Betriebe staatlicherseits verpflichtet waren. So z.B. gab es für jeder Klubhaus der Werktätigen einen Trägerbetrieb, der zu dem dortigen Kulturbetrieb beitragen mußte. Als Klubhausleiter mehrerer Dessauer Klubs der Werktätigen in Dessau, weiß ich wovon ich rede. Wenn es nach den „heiligen Dreifaltigkeiten" (Werkleiter, Parteisekretär, BGL-Vorsitzender) in den Trägerbetrieben gegangen wäre, dann hätte es statt Kultur nur Saufveranstaltungen primitivster Art gegeben (übertrieben gesagt).

Es war bezeichnend, daß diese Troikas immer mal wieder Besuche in ihren Klubhäusern machen mußten und dann aber als erstes in die dortige Gaststätte gingen. Bei den Klubhäusern der Werktätigen war es so, daß die dortige Gastronomie nie vom Klubhaus betrieben wurde, sondern entweder von der Konsumgenossenschaft oder der HO. Das gab dann immer Schwierigkeiten, wer nun letztendlich im Hause das Sagen hatte. Der Gaststättenleiter wollte natürlich nur Sauf-und-Fress-Veranstaltungen im Hause, dem Klubhausleiter war das geistig-kulturelle Leben das Wichtigste. Es war schon lustig, wenn nach dem Besuch des Gaststättenleiters, welcher der Troika tüchtig einschenkte, dann diese „sozialistischen Leiter“ die Treppe zum Büro des Klubhausleiters hochwankten und dort nur dummes Zeug lallten. Unten beim Gaststättenleiter hatten sie dann ohne Wissen des Klubhausleiters schon ein paar Veranstaltungen gebucht, die dem Kneiper einen satten Gewinn einbrachten. Offiziell hatten ja diese Klubhausgastronomen nur ein ganz mickriges Gehalt, der große Verdienst, der zwar auch nicht legal war, aber wo kein Hahn danach krähte, das waren die großen Betriebsvergnügen, wie z.B. der Kampfgruppenball. Ein großes Büfett, welches einen Warenwert von vielleicht 6.000 Mark hatte, das wurde dem Betrieb für 9.000 Mark untergejubelt. Kontrollieren tat das von Seiten des Betriebes keiner. Der Gewinn wanderte in die Privattasche des Kneipers. Trotz dieser Gewinne war manch Kneiper damit noch nicht zufrieden, und nur wenige Stunden nach Büfetteröffnung da wurde das Büfett „neu geordnet“ und etliches wanderte bei diesem Neuordnen in die Kühltheken der Gaststätte, um die nächsten Tage an normale Gäste verkauft zu werden. Der Klubhausleiter hatte darauf allerdings keinen Einfluß zu nehmen, wie immer wieder die Betriebe betonten, aber dennoch griffen wir des öfteren denn doch ein: „Erwin, komm, die Sachen die du eben raus getragen hast, die kommen zurück auf´s Büfett!“ Zähneknirschend machte das dann manch Gastronom.

Was sich die Cliquen an der Macht in der damaligen DDR-Provinz erlauben durften, zeigte auch der Fall eines Werkleiters, der öfter in der Gaststätte seines Klubhauses einkehrte. Obwohl schwer schwankend, da bei einem solchen Besuch immer betrunken, fuhr er selber sein Auto. Die Polizei hielt ihn zwar öfter mal an, aber es kam nichts nach für ihn. Das wurde dann stillschweigend hinter den Kulissen „geregelt“.

Bevor ich Klubhausleiter wurde, war ich Veranstaltungsleiter im Dessauer Kreiskulturhaus „Maxim Gorki“, Trägerbetrieb war der VEB Zementanlagenbau Dessau. Ich konzipierte da u.a. ein Programm „Lyrik, Musik, Prosa“ in Zusammenarbeit mit der Betriebsbücherei des Betriebes und zog mit Mitstreitern dann durch die Werkhallen. Solcherart Programme waren von oben angeordnet worden um direkt Kultur an den Arbeitsplatz zu bringen. Die ca. 1-stündige Veranstaltung fand direkt am Arbeitsplatz während der Arbeitszeit statt, also hätten sich die Arbeiter eigentlich freuen müssen für diese mit dem Durchschnitt bezahlte Unterbrechung der Arbeit. Das war nur selten der Fall! Obwohl wir das Programm volkstümlich gestalteten, nicht zu anspruchsvolle Lyrik, Prosa und Musik darboten, dies auch mit guten Theaterleuten, schaute man oft nur in teilnahmslose dumpfe Gesichter. Das wichtigste war dem Meister dann, daß ich ja die Teilnahme aller mit Unterschrift bestätigte, damit die Punkte für die Prämienzahlung zusammen waren.

Von dem Ideal des propagierten allseitig gebildeten klassenbewußten Arbeiters war man Mitte der 70er Jahre in der DDR in der Praxis weit entfernt. Oft waren die großen Anstrengungen der Kulturleute ein „Perlen vor die Säue werfen“ und ich schätze, kaum einer der damaligen Arbeiter las nach unseren Veranstaltungen je ein „Poesiealbum“, für das wir auch immer Werbung machten.         

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