Es blühen derzeit zwei Königinnen der Blumen nebeneinander in meinem Garten: eine kleine Lilie und eine kleine Rose! Welche schöner sei, darüber zu spekulieren ist müßig, jede Blume ist eigentlich die Schönste und sei es ein schlichtes Gänseblümchen. Es ist eigenartig, wenn ich eine Lilie sehe denke ich unwillkürlich an Søren Kierkegaard (1813-1855), den engagierten Verfechter der Idee des Christentums gegen die Realität des Christentums und seinen Text von den Lilien auf dem Felde (Text siehe unten), dies nicht zuletzt deshalb, da Walter Timmling von Kierkegaard stark beeinflußt war und er auch in mehreren Texten über ihn geschrieben hatte. Gerade jetzt ist ja in meinem Blog darüber von Charlotte Timmling etwas zu lesen, deren unvollendets Buch „Unser Haus“ ich etappenweise veröffentliche.
Egal was man in eine Lilie, eine Rose, hinein interpretiert, letztendlich ist dies nur Menschendenken und wird dem Wesen der Blumen nicht gerecht. Zum Glück kommt man ja auch in neuerer Zeit davon ab in Blumen menschliche Dinge hinein zu interpretieren und eine Calla ist z.B. nicht mehr nur einem Grabschmuck vorbehalten oder eine Rose wird nicht nur als Blume der Liebe verschenkt und schon gar nicht wird jemand der einen Strauß weißer Lilien verschenkt verdächtigt, daß er damit eine Anspielung auf „Unschuld“ machen wolle.
Derzeit blüht in meinem Garten auch der Fingerhut (Digitalis). Schön ist er aber auch giftig und doch ist sein Gift ein Segen für manchen Herzkranken, gewinnt man bekanntermaßen doch aus dieser Pflanze ein probates Medikament - in großer Dosis also giftig, in kleiner Dosis heilsam, so wie vieles im Leben.
Søren Kierkegaard: Das Gleichnis von der Lilie
Es war einmal eine Lilie. Die stand an einer abseits gelegenen Stelle an einem kleinen rinnenden Wasser und hielt gute Nachbarschaft mit ein paar Nesseln sowie mit einer Anzahl anderer Blümchen da in der Nähe. Die Lilie war nach der wahrhaften Beschreibung des Evangeliums schöner gekleidet als Salomo in all seiner Herrlichkeit, dabei sorglos und froh den lieben langen Tag. Unmerklich und in Glückseligkeit glitt die Zeit dahin, gleich dem rinnenden Wasser, das rieselt und dahinzieht. Aber da traf es sich, dass eines Tages ein Vögelchen kam und die Lilie besuchte. Am nächsten Tag kam es wieder, blieb dann mehrere Tage fort und kehrte sodann wieder. Das dünkte der Lilie seltsam und unerklärlich; sie konnte es nicht fassen, warum der Vogel nicht auf derselben Stelle blieb wie die kleinen Blumen, und es dünkte sie sonderbar, daß der Vogel so launenhaft sein konnte. Wie das nun oft vorkommt, so geschah es auch der Lilie: gerade weil der Vogel so launenhaft war, verliebte sie sich immer mehr in ihn.
Dieses Vögelchen war ein schlimmer Vogel; statt sich in die Lage der Lilie zu versetzen, statt sich an ihrer Schönheit zu freuen und sich mit ihr ihrer unschuldiger Glückseligkeit zu erfreuen, wollte er sich dadurch wichtig machen, dass er seine Freiheit fühlte und die Lilie ihre Gebundenheit fühlen ließ. Und nicht nur das -: auch war das Vögelchen redselig, es erzählte von allem möglichen, Wahres und Unwahres; es sprach von weit prächtigeren Lilien, die an anderen Stellen in großer menge stünden und wo eine Freude und Munterkeit, ein Duft, eine Farbenpracht und ein Vogelgezwitscher herrsche, dass es nicht zu sagen sei. So erzählte der Vogel, und jede seiner Erzählungen endete gerne mit der für die Lilie demütigenden Bemerkung, im Vergleich mit solcher Herrlichkeit sehe sie wie ein Nichts aus, ja, sie wäre so unbedeutend, dass es sich überhaupt frage, mit welchem Rechte sie sich eine Lilie nenne.
So wurde die Lilie bekümmert, und je mehr sie auf den Vogel hörte, desto mehr wuchs ihre Bekümmernis. Nachts schlief sie nicht mehr ruhig, und morgens wachte sie nicht mehr froh auf. Sie fühlte sich gefangen und gebunden, das Rieseln des Wassers fand sie langweilig, und der tag wurde ihr lang. Nun fing sie an, sich voller Selbstbekümmernis, solange der tag währte, mit sich selber und mit ihren Lebensverhältnissen zu beschäftigen.
"Ganz schön mag das ja sein", sagte sie zu sich selber, "hin und wieder und um der Abwechslung willen auf das Rieseln des Baches zu lauschen. Aber tagein, tagaus immer dasselbe zu hören, das ist doch gar zu langweilig". -"Es kann angenehm sein", sagte sie bei sich, "hin und wieder an abgelegener Stelle zu stehen und einsam zu sein; aber so das ganze Leben hindurch vergessen zu sein, ohne Gesellschaft zu sein oder nur durch die Gesellschaft von Brennesseln zu haben, was doch wohl für eine Lilie keine Gesellschaft ist, das ist nicht auszuhalten." -"Und dann", meinte sie weiter bei sich, "und dann so gering auszusehen und so unbedeutend zu sein, wie es der kleine Vogel von mir behauptet, - ach, warum bin ich nicht an anderer Stelle und unter anderen Lebensbedingungen aufgewachsen?! Ach, warum bin ich keine Kaiserkrone geworden!? Das Vögelchen hatte ihr nämlich erzählt, unter allen Lilien gelte die Kaiserkrone für die schönste und werde von allen Lilien beneidet. Um so mehr kam es der Lilie zu Bewusstsein, wie die Bekümmernis nach ihr griff. Aber dann redete sie sich vernünftig zu, - aber doch nicht so vernünftig, dass sie sich die Bekümmernis aus dem Sinn schlug, sondern so, dass sie sich selber davon überzeugte, wie berechtigt ihre Kümmernis sei; denn, so sagte sie, "mein Wunsch ist ja kein unvernünftiger Wunsch. Ich verlange ja nichts Unmögliches, dass ich gar etwas werden möchte, was ich nicht bin, zum Beispiel ein Vogel. Nein, - mein Wunsch ist lediglich der, ich möchte eine prächtige Lilie werden oder doch auch die prächtigste von allen."
Während alledem flog das Vögelchen hin und her, und mit jedem seiner besuche und mit jedem Abschied wuchs die Unruhe der Lilie. Schließlich vertraute sie sich dem Vogel ganz an. Eines Tages kamen sie überein, am nächsten Morgen solle eine Veränderung vor sich gehen, und der Bekümmernis solle ein Ende gemacht werden. Zeitig am nächsten Morgen kam das Vögelchen; mit seinem Schnabel hackte es das Erdreich an der Wurzel der Lilie los so dass sie frei werden konnte. Als das geglückt war, nahm der Vogel die Lilie unter seine Flügel und flog mit ihr von dannen. Es war nämlich verabredet worden, der Vogel solle mit der Lilie dorthin fliegen, wo die prächtigen Lilien blühten; dort solle er ihr dann beim Einpflanzen behilflich sein, um zu erproben, ob es der Lilie nicht durch die Ortsveränderung und die neue Umgebung glücke, in der Gesellschaft der vielen eine prächtige Lilie oder gar eine Kaiserkrone zu werden, die von allen anderen beneidet werde.
Ach unterwegs welke die Lilie. Wäre der bekümmerten Lilie genug gewesen, dass sie eine Lilie war, so wäre sie nicht bekümmert geworden. Hätte die Bekümmernis in ihr keine Stätte gefunden, so wäre sie stehen geblieben, wo sie stand, - wo sie in all ihrer Schönheit stand. Wäre sie stehen geblieben, wäre sie gerade die Lilie gewesen, von der der Pfarrer am Sonntag sprach, als er das Wort des Evangeliums wiederholte: "Sehet die Lilien: ich sage euch, dass Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht gekleidet war wie sie"...
Die Lilie ist der Mensch. Das schlimme Vögelchen ist der unruhige Gedanke des Vergleichens...
Wenn nun der Mensch an die Bekümmernis der Lilie, die eine Kaiserkrone werden wollte, nicht ohne Lächeln kann, und wenn er sich vergegenwärtigt, dass sie unterwegs verstarb, - o, dann bedenke, Mensch, dass es zum weinen wäre, wenn sich ein Mensch ebenso unvernünftig bekümmerte, - ebenso unvernünftig, - doch nein -: wie dürfte ich das so stehen lassen und wie dürfte ich ernstlich die göttlich bestellten Lehrmeister beschuldigen, - die Lilien auf dem Felde! Nein, - so bekümmerten sich die Lilien nicht, und gerade deswegen sollten wir von ihnen lernen.
Wenn es einem Menschen gleich der Lilie genügt, dass er ein Mensch ist, so wird er nicht krank durch zeitliche Bekümmernis, und wenn er nicht durch zeitliche Dinge bekümmert wird, so bleibt er auf jener Stelle stehen, die ihm angewiesen ist, und wenn er da verharrt, dann ist es fürwahr so, dass er durch sein menschsein herrlicher ist als Salomos Herrlichkeit.